Irreguläre Schule der Psychotherapie

Seit ca. 1990 breitet sich im deutschen Sprachraum eine irreguläre Schule der Psychotherapie aus, die aus den herkömmlichen psychologischen Schulmeinungen und deren Denkkorsetten ausbricht und zu deren Ausübung kein wissenschaftliches Studium erforderlich ist – eine Art von kreativer, selbstbestimmter Hilfe zur Selbstfindung, ließe sich mit einer gewissen Sympathie formulieren. Ich möchte liebevoll von ‹Heilblüten› sprechen.

 

Herkömmliche Schulmeinungen

Die herkömmlichen Schulen der Psychotherapie und ihre herkömmlichen Schulmeinungen sind

    • Psychoanalyse bzw. Hypnosetherapie, überhaupt alle Gesprächstherapien und Imaginationsverfahren, denn hier werden stets verdrängte, verschüttete oder verschlüsselte Erinnerungen des Patienten wiedererweckt.
    • Verhaltenstherapie und Psychoedukation, auch Traumapädagogik, denn hier geht es im Grund genommen nicht um das Seeleninnere, sondern um das Nachholen von Erziehungsversäumnissen bzw. Erlernen, mit einem erlittenen Trauma umzugehen.
    • Systemische Therapie inkl. Familienaufstellungen, denn hier wird der Patient nur als Teil seiner Umgebung, als Ressourcenbündel betrachtet, und in dieser Wolke werden auch die Diagnose- und Heilungsaussichten vermutet.

 

Geistige Gesundheit in Psychoanalyse und Verhaltenstherapie

Fluchtpunkt geistiger Gesundheit in der Psychoanalyse war das sich seiner selbst bewusste und sich selbst bestimmende bürgerliche Ich als Hauptgestalter einer dynamischen Klassengesellschaft. So ein Mensch hat seine Triebe, Einbildungen oder Erinnerungen im Griff und ordnet sie dem Realitätsprinzip unter, opfert das innere Kind, das Triebselbst und wird dafür in die Gemeinschaft der Familienväter und die damit verbundene Gestaltungsmacht über die Gesellschaft aufgenommen.

Verhaltenstherapien haben ein anonymes Individuum ohne eigene persönliche Würde als Fluchtpunkt geistiger Gesundheit, das sich fraglos und klaglos in die Gesellschaft einordnet und sich genauso verhält wie vermeintlich alle anderen, jedenfalls wie es von einem solchen Individuum erwartet wird – Pflichterfüllung, soziale Kontakte, Familien und Freuden: eine gut geölte soziale Maschine aus gut angepassten Verhaltensweisen ohne eigene Seele.

Diese beiden ich-betonten Schulen gehören zur bürgerlichen Epoche bzw. zur darauf folgenden Massengesellschaft. Geistige Gesundheit ist keine medizinische, sondern eine soziale Kategorie und wird in jeder Epoche unterschiedlich definiert. Es geht darum, welche Art Mensch sich die Gesellschaft und damit die Psychotherapie als ideale Glieder der Gemeinschaft vorstellt und wer in den Genuss solcher Anpassungsleistungen kommt.

 

Geistige Gesundheit in der systemischen Therapie

Als die Massengesellschaft zerfiel, ein standardisiertes Bündel von Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht mehr ausreichte, um ein gesundes und angesehenes Mitglied der Gemeinschaft zu sein, wurde die gesellschaftliche Integration des Individuums in der systemischen Therapie – oder der ressourcenorientierten sozialen Arbeit – stets als gefährdet angesehen. Sie kann grundsätzlich nicht aus dessen eigener Kraft vollbracht werden, denn dann wäre es nie hilfsbedürftig geworden.

Das gefährdete, meist dysfunktionale Individuum kann jedoch heute nicht mehr – wie noch im viktorianischen Zeitalter – als Ausschuss betrachtet werden, wird aber dennoch nur als Spielball des eigenen Lebensumfelds und der eigenen Ressourcen betrachtet. So wird geprüft, ob das dysfunktionale Individuum über genügend Rückhalt verfügt, um durch dessen Gravitation wieder in das System hineingezogen zu werden, oder ob Hopfen und Malz verloren sind.

Jedoch beschäftigt sich der systemische Ansatz niemals mit dem Individuum als solchem, seinen Wünschen, seiner Würde, seiner Genesung, glaubt, dass diese sich in einem einigermaßen gedeihlichen – zumindest nicht zerstörerischen – Umfeld schon von alleine ausrichten werden.

 

Alternative Energiearbeit und Achtsamkeit

Die neue Richtung stammt von der Energiearbeit ab und reicht bis in die mediale oder Geistheilung bzw. den Schamanismus, umfasst darüber hinaus Körperarbeit und holistische Medizin, Aurachirurgie u.ä. Wunderheilungen, Glücksberatung und Geister- bzw. Engelsbeschwörungen. Die Grenzen zur reinen Esoterik oder Religion sind fließend, wobei der Buddhismus dem Christentum den Rang abläuft.

Es gibt keinen Fachverband, lediglich regionale Schulen ohne kultgleich verehrte Lehrerinnen und Lehrer – eine Graswurzelbewegung von verantwortungsbewussten Bürgerinnen ohne wissenschaftliche Bildung für ihresgleichen. Die psychologische Beratung und ihre Klientel haben dieselbe Mentalität und gehören denselben Kreisen an – kleinbürgerliche Hausfrauen, überforderte Berufstätige, ohne völlige Zerstörung Traumatisierte. Dieses sich immer stärker herausbildende Milieu der ‹Achtsamkeit› scheut ibs. die Wahrheit des Traumas, will es ‹weglieben›.

 

Fehlendes Methodenbewusstsein in der irregulären Psychotherapie

Da es keine normierten Schulen gibt, wählt jede Beraterin oder Therapeutin ihre Methoden selbst. In der irregulären Psychotherapie durchdringen verschiedene Techniken einander und werden frei kombiniert – durchaus mit breiten Anleihen bei den klassischen Schulen der Psychotherapie. Eine gemeinsame methodische Fortentwicklung etwa im Rahmen der kollektiven Fallbearbeitung oder Supervision fehlt.

Techniken der Psychotherapie werden instrumentell betrachtet, nicht inhaltlich bewertet. Die Schule ist wie eine weise Frau oder ein Barbier alter Schule am Beratungsalltag ausgerichtet, ohne sich Gedanken über psychologische Grundlagen oder gar die durch die Therapie angerichteten Verheerungen zu machen. Alle Übungen, die einzelnen PatientInnen gut tun, werden für nützlich und damit richtig erklärt. Methodische Evaluation oder psychologische Einordnung unterbleiben.

Doch sind die Übungen so grundlegend und sind die Klientinnen bisher mit einem solchen Maß an Verachtung behandelt worden, dass selbst die geringste Entspannung gewaltige Erfolge zeitigt. Das spricht nicht gegen dieses Vorgehen, wohl aber gegen dessen Erhöhung zu einer psychologischen Theorie. Menschen mit Lebensproblemen respektvoll zu behandeln, ist noch keine Psychotherapie.

 

Alternative Energiearbeit oder Geistheilungen

Stark umstrittene oder schwer verständliche Methoden werden im breiten Feld gemieden, weil man sie nicht beherrscht, aber nicht rundheraus abgelehnt. Dies gilt sowohl auf der Seite der ‹Geheimwissenschaften› als auch auf der Seite der ‹Gemeinplätze›; man hält sich wohlanständig bedeckt.

    • Aufstellungen aller Art – Familienaufstellung, Psychodrama, problembezogene Aufstellungen – gelten als unwissenschaftlich und werden in die Nähe spritistischer Sitzungen gerückt, gerade wenn mit Stellvertretern und deren bewusst sparsamer Interaktion gearbeitet wird.
    • Rückführungen werden von denen, sie sie ernsthaft benutzen, verschämt verschwiegen, um nicht in den Ruch zu geraten, falsche Erinnerungen zu erzeugen, zumal in der Rückführung selbst offenbar keinerlei Qualitätssicherung stattfindet, nicht zwischen transgenerationaler Traumavererbung und persönlicher Wiedergeburt über den Abgrund der Zeit hinweg unterschieden wird.
    • Geisterbeschwörungen tauchen in der psychologischen Beratungen niemals auf, mögen Schamanen in diesen Kreisen auch noch so große Bewunderung genießen, sondern beschränken sich auf geschlossene naturreligiöse Zirkel. Lediglich christliche Abarten sind verbreitet, doch haben Meditation, Gebet, Engelsruf im Grunde genommen nichts mit Psychotherapie zu tun.
    • Diesseits der Grenze zum Wahnsinn werden Traumaintegration oder ‑konfrontation oder exemplarische Traumabearbeitung nicht hinterfragt, höchstens aus dem Bauch heraus abgelehnt, allerdings ohne psychologisches oder psychotherapeutisches Methodenwissen.

 

Oberflächlichkeit des psychologischen Beratung

Die psychologische Beratung geht selten bis an die Wurzel des Leidens, bleibt bei einer nützlichen Lebensberatung stehen. Viele Patientinnen würden eine Vertiefung nicht zulassen, verschließen die Augen vor dem ihren Beschwerden in Wahrheit zugrundeliegenden Trauma. ‹Schwierige Fälle› werden an die approbierte Psychotherapie verwiesen – soviel zum alternativen Anspruch!

Dabei hängt es nicht nur vom Patienten und seiner Zahlungsfähigkeit ab, sondern auch vom beruflichen Selbstverständnis der psychologischen Beratung, wer wie weit geht oder gehen möchte oder glaubt, gehen zu müssen, um das Übel an der Wurzel zu packen.

Solche Grundfragen scheinen in der Supervision oder in den kollegialen Gesprächskreisen keine Rolle zu spielen, zumal dort oftmals ein unangenehmer missionarischer Eifer herrscht, wie in einer i. W. von Aberglauben beherrschten Szene mit nur geringem Methodenwissen nicht anders zu erwarten.

 

Das Persönlichkeitsmodell einer alternativen Psychologie

Die gemeinsame theoretische Grundlage, das Persönlichkeitsmodell einer sich abzeichnenden alternativen Psychologie ist die Abkehr vom monistischen Persönlichkeitsmodell und von der Leib-Seele-Spaltung. Im Entstehen begriffene Denksysteme sind:

    • Theorie der Selbstzustände (= ego states theory), wonach jede Persönlichkeit aus mindestens vier mehr oder weniger isomorphen Selbstzuständen besteht;

    • Auffassung von den drei menschlichen Gehirnen (Kopf, Herz, Darm) und der geheimen Bedeutung des vagalen Nervensystems für die unbewusste Steuerung nicht nur der Körperfunktionen, sondern auch des Verhaltens;

    • Verständnis für in den Körper eingeschriebene Erinnerungen außerhalb jeglichen Bewusstseins und wie solche Blockaden (oder Programme) sich durch Körperübungen, aber nicht durch Einsicht lösen lassen;

    • Öffnung der rationalen Psychologie für eine feinstoffliche Welt aus Energien, Wiedergeburt, Engeln, Geistern und Magie, hier teils auch zaghafte naturwissenschaftliche Forschungen (consciousness studies, Herzgehirn).

 

Menschenbild der psychologischen Beratung und geistige Gesundheit

Die psychologische Beratung in der Tradition einer irregulären Psychotherapie hat noch kein festes Menschenbild herausgebildet; ibs. fehlt das erforderliche philosophische Rüstzeug, um etwa die eigene Verstreuung in die eigene Geschichte und das eigene Lebensumfeld zu würdigen. Zudem werden das soziale Umfeld oder der Wertehorizont nur als Ressourcen betrachtet, aber nicht als gesellschaftliche Gegebenheiten.

Ein erster Merkposten im Verständnishorizont der sich herausbildenden alternativen Psychologie könnte lauten: Der Mensch ist keine in sich geschlossene Monade, nicht reines Selbstbewusstsein und Willenszentrum, sondern ein Verteilungsschema in einer Wolke aus Energielinien, Bedeutungen und Überlieferungen, eher eine stehende, sich langsam wandelnde Welle als ein festes Gehäuse. Allerdings versteht er dieses Umfeld, in dem er schwingt, nicht. Wir haben es also mit einem kleinbürgerlichen Weltbild zu tun, und das ist auch der Therapiehorizont.

Im Idealbild von Gesundheit im Fluchtpunkt der Heilblüten ist der Mensch eher ein Verteilungs- und Verströmungsschema denn eine in sich geschlossene Kapsel – der Strömungen, aus denen er selbst besteht, seines und seiner Vorfahren Lebensumfelds. Er wird durch diese ihn gestaltenden Kräfte nicht unausweichlich bestimmt, gestaltet sie aber auch nicht gemäß Ansichten oder Machtanspruch, ist vielmehr seine Situation, sein Herkommen, sein (Energie-)Körper, sein Sinnhorizont.

Willensfreiheit und Gestaltung der Lebensumstände werden ausgeblendet. Das ist eine legitime philosophische Position (mit starker religiöser Färbung), aber sie ist psychologisch unhaltbar. Unter diesen Annahmen ist eine rationale Therapie nicht möglich. Jedoch hängt die Bewegung diesen Auffassungen keineswegs zufällig an. Sie repräsentieren die Lebenssituation und das Weltbild der kleinbürgerlichen Frau. Sie kann ihre eigene Lebenslage nicht ändern und tritt Auffassungen von Willensfreiheit empört entgegeben, um nicht der eigenen Unfreiheit ins Gesicht sehen zu müssen.

 

Psychologische Beratung und ihre beschränkten Therapieziele

Dass sich leichteren Ausfällen – Motivationsprobleme, Führungsschwäche, beruflicher Wiedereinstieg – leichter entgegensteuern lässt als echten psychischen Schäden oder Persönlichkeitsstörungen, ist nur eine wohlfeile Annahme. Gerade alternative Heilwege nehmen sich Traumata an, an denen sich eine klassisch geschulte Psychoanalyse nicht die Finger verbrennen möchte. Umgekehrt sind gerade komplex traumatisierte Patientinnen für Geistheilungen aufgeschlossen.

Systemische, ressourcenorientierte Erklärungen oder Resilienzannahmen sind tautologisch, denn Patientinnen mit natürlicher Stärke oder intaktem sozialem Hintergrund heilen natürlich am leichtesten. Oder heilen die Patientinnen von selbst gemäß der ihnen zur Verfügung stehenden inneren und äußeren Heilkräfte? Sind innerlich und äußerlich schwache Patientinnen überhaupt heilbar oder führbar?

Alle ressourcenschwachen und damit hoffnungslosen Fälle werden an eine Fachstelle der Jugendhilfe oder Wiedereingliederungshilfe abgegeben, aber das sind nicht alle schweren Fälle. Wie weit Heilblüten ihre eigene Reichweite einschätzen, ist unklar, zumal sie nie erfahren, wie es weitergegangen ist, nachdem sie aufgegeben haben; zudem sprechen sie nicht offen über ihre Verachtung manchen Patientinnen gegenüber.

 

Energiearbeit, Wiedergeburt, dezentrale Physiologie

Die dezentrale Schule des geistigen Wohlbefindens enhält drei Grundstoffe, ist eher eine ‹Legierung› als eine Denkschule, der auch Grundstoffe aus der Verhaltenstherapie oder Hypnose beigemengt werden können.

    • Energiearbeit und Körperarbeit in der Traumatherapie, die verletzte Seele als Lebensgeist oder Hoffnungsflamme, elementare Körperübungen zur Lösung in den Körper eingeschriebener traumatischer Erinnerungen.
    • Herkommen und Wiedergeburt decken ererbte Schuld oder ererbte Verletzungen auf, wobei die Rückführungen nicht zwischen unserem Herkommen aus der vorherigen oder vorvorherigen Generation und einer Art von Wiedergeburt über Epochen hinweg unterscheiden, denn in der energetischen Traumatherapie wird beides gleichgesetzt.
    • Dezentrale Physiologie: (a) das traumatische Gedächtnis der Amygdala, (b) die drei menschlichen Herzen, (c) die Polyvagaltheorie, (d) Epigenetik transgenerationaler Traumavererbung. Das Trauma wird im Körper, nicht im Gedächtnis gespeichert und bestimmt auch von entlegenen Orten aus unser Verhalten, das psychische Trauma und seine Bewältigung wird verharmlost.

 

Energiearbeit und Körperarbeit

Mediale Heilungen, spirituelles Aufblühen als Bestandteil der Energiearbeit sind alter Wein in neuen Schläuchen, denn altehrwürdige philosophische Kategorien wie Wertbindung oder Sinnhorizont lassen sich eben auch als Lebensgeist oder Hoffnungsflamme beschreiben. Die irreguläre Traumatherapie liebt solche Auffassungen; abgesehen von körperlichen und seelischen Wunden oder Verstümmelungen bedeutet Trauma ein fast verloschenes Seelenlicht.

Da ist die Körperarbeit schon handgreiflicher (aber oft nicht weniger esoterisch). Traumatische Erinnerungen sind in den Körper eingeschrieben, Wunden und Narben, Haltung und Verspannung, Programme oder Reflexe. Der Übergang zur Soziologie ist fließend, also etwa typischen unterwürfigen Verhaltensweisen oder der Angewohnheit, einen Raum in Sekundenbruchteilen auf mögliche Gefahren zu prüfen.

Beide Male wirkt bereits das geringste Heilunterfangen wahre Wunder, da eine elementare Verkrampfung als körperlicher Niederschlag der eigenen Unwürdigkeit erstmals aufgelöst, erstmals nicht als natur- oder gottgegeben dargestellt wird. Da hilft dann schon Handauflegen oder Familienaufstellung mit Komparsen.

Nur wird der Klientin eine Wunderheilung vorgegaukelt, die es gar nicht gibt. Stockt die Heilung danach, macht sie sich Vorwürfe, dass sie zu schlecht ist, dass sie eine andere werden müsste, um ganz und gut zu sein. Unversehens hat sie sich in ihr typisches toxisches Beziehungsverhalten verstrickt, den Heilsversprechen einer Vater- oder Mutterfigur zu folgen, dann aber doch wieder nur verletzt zu werden (und genau diese Enttäuschung anzustreben).

Die Energiearbeit als Grundkurs gegen Hoffnungslosigkeit eignet sich nicht für die weitergehende Traumatherapie, sondern muss mit Methoden der Alltagsbewältigung und Ich-Stärkung ergänzt werden, also aus den klassischen Entwicklungssträngen der Psychotherapie. 

 

Rückführungen: Herkommen und Wiedergeburt

Rückführungen gelten bei einigen als untrennbarer Bestandteil der Energiearbeit (doch wären Energie- und Körperarbeit auch dann richtig, wenn Rückführungen Humbug wären); nur wird nicht zwischen unserem Herkommen aus der vorherigen oder vorvorherigen Generation und einer Art von Wiedergeburt über Epochen hinweg unterschieden.

Das echte Herkommen begründet unser Verhalten medizinisch, psychologisch und biologisch stichhaltig, auch dessen traumatische Prägung ohne eigenes Erleben. Wiedergeburt besitzt der Natur der Sache nach keine physische oder seelische Bestimmungsmacht über unser heutiges Dasein, wirkt rein feinstofflich oder innerpsychisch. Die Verbindung über lange Zeit hinweg ist spiritueller Natur, ob es um unser Selbstverständnis und Weltverständnis geht oder ob hier kosmische Gesetze am Werk sind, welche Entwicklungszustände die ewige Seele durchlaufen muss.

Ebensowenig wie Vernachlässigung oder emotionaler Missbrauch ‹genauso schlimm› sind wie Kindesmisshandlung oder sexueller Kindesmissbrauch (wie viele psychologische Beraterinnen meinen, weil sie vermutlich nicht wissen, was sexueller Kindersmissbrauch ist), ist transgenerationale Traumavererbung einem echten komplexen Trauma in diesem Leben gleichzusetzen, auch wenn beides in Wahrheit meist zusammen auftritt oder zumindest erst in der Ballung zu starken Schäden führt.

Familientraditionen oder auch Wiedergeburt gehören zur Soziologie oder zurgeistigen Selbstvervollkommnung. Sie mögen auch in der Psychotherapie ihren neu erworbenen Ehrenplatz behalten, wenn es etwa um Familientherapie, Angststörungen oder spirituelle Identitätskrämpfe geht. Schwere selbsterlebte Traumata werden jedoch bei Anwendung dieser Werkzeuge oder Vorstellungen verharmlost und dadurch nur weiter vertieft.

Ererbte Traumata wiegen in Wirklichkeit weniger, werden hier jedoch gleichgesetzt (um vom eigenen Leben abzulenken und das selbst Erlittene als Schicksal erscheinen zu lassen). Nur bedeutet das Abschütteln ererbter Knechtschaft und ihrer Druckstellen und Verrenkungen etwas ganz anderes als zu lernen, mit echten Verletzungen oder seelischen Behinderungen zu leben oder vielleicht sogar ein freies Leben führen zu können.

Die Behandlungsreihenfolge wird sein:

(a) Konzentration auf das erlebte, nicht das ererbte Trauma, dann

(b) Prüfung, ob das erlebte Trauma im traumatischen Erbumkreis steht, dann

(c) Rückführung und Ausgraben des vor Urzeiten in einem anderen Leben verhängten Fluchs.

Es wird aber keine Fälle nur ererbter Knechtschaft oder gar einstiger Schuld ohne erlebtes Trauma geben; dann bleibt es bei Neurosen oder leichten Angststörungen. Wenn ich hier gesund und glücklich lebe, aber die Narben meiner Eltern geerbt habe, bleibt es bei Verhaltensstörungen. Wenn ich in grauer Vorzeit ein Verbrechen begangen habe, mag ich bestenfalls in einen philosophischen oder religiösen Wahn verfallen.

 

Traumatische Erinnerungen in einer dezentralen Physiologie

Gerade die am meisten der spirituellen Freiheit verpflichtete irreguläre neue Schule der Psychotherapie beruft sich auf eine geradezu naive Art auf neue Erkenntnisse der Physiologie, (a) das traumatische Gedächtnis der Amygdala, (b) die drei menschlichen Herzen, (c) die Polyvagaltheorie, (d) Epigenetik transgenerationaler Traumvererbung. Hier machen sich die fehlenden Kenntnisse in Medizin, Psychologie und Logik gepaart mit einem typisch weiblichen Wunderglauben am deutlichsten bemerkbar.

In der Traumapsychologie, Traumapädagogik und Traumatherapie wird nunmehr angenommen, das Trauma werde im Körper, nicht im Gedächtnis gespeichert und bestimme auch von entlegenen Orten aus unser Verhalten. Tatsächlich denken wir nicht nur mit dem Gehirn, sondern auch mit Herz- und Darm-Gehirn als Nebenleitzentralen unserer Überlebens- und Totstellreflexe – übermächtig gerade bei Überlebenden.

Doch bergen diese Erkenntnisse die Gefahr der Verharmlosung des psychischen Traumas und seiner Bewältigung. Was uns widerfahren ist, wird zu einer erworbenen biologischen Anlage umgedeutet, die sich der Lebensgestaltung entzieht, ob man nun den Körper durch Bewegungen oder Berührungen befreit und damit den Fluch von ihm nimmt – den Erstarrungszauber, den der Täter einst ausdrücklich aufgelegt hat –, oder ob man angesichts einer verkrüppelten limbischen Hirnregion Hopfen und Malz für verloren oder ererbte Knechtschaft und die uns übertragene Schuld unserer Väter (und Mütter) epigenetisch für unveränderbar erklärt.

Es geht hier gar nicht um Medizin, sondern um das Menschenbild, ob der Mensch einen freien Willen besitzt und zur Selbstvervollkommnung auch unter widrigen Umständen in der Lage ist, oder ob er nur durch seine Umstände definiert wird, seinen Körper, seine Herkunft, sein Vorleben, die Sterne.

Wer von einer biologischen Gerinnung des Traumas ausgeht, ist zudem nicht weit von einer erbbiologischen (rassistischen, sexistischen, klassistischen) Weltanschauung entfernt – eine gängige Wahlverwandtschaft aller spirituellen Schulen wie auch der kleinbürgerlichen weißen Frau im Allgemeinen. Gerne verwechseln die Verfechterinnen bewusst Genetik und Epigenetik.

 

Häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt

Gerade Opfer von Kindesmisshandlung, ibs. sexuellen Kindesmissbrauchs tauchen häufig in der psychologischen Beratung oder auf irregulären Heilwegen auf, weil sich niemand sonst ihrer annimmt und sich die Mühe gibt, ihre Symptome auf die wahre Wurzel zurückzuführen, oder sie vielleicht bereits eine langen psychiatrischen Leidenweg hinter sich haben. Alle Patientinnen sind stark traumatisiert, auch wenn es ihnen nicht bewusst ist, weil sie eben immer so gelebt und gefühlt haben, oder sie es nicht wahrhaben wollen.

Wie geht die psychologische Beratung generell mit erlittener Gewalt um, und was traut sie sich mit ihren Mitteln zu? Zudem halten auch Therapeutinnen – ebenso wie das allgemeine Vorurteil – häusliche und sexuelle Gewalt für ein Unterschichtproblem, verdrängen sie also bei ihrer zahlenden Klientel aus ihrer Wahrnehmung (und übertragen die Leugnung interessanterweise auch auf den Opferstatus der heutigen kleinbürgerlichen Frau). Erkunden sie jemals bewusst – wenn auch vorsichtig – erlittene häusliche oder sexuelle Gewalt, wenn Patientin oder Problempaar den Sachverhalt nicht von sich aus ansprechen?

Einige tun es, andere nicht, einige gehen dem Thema lieber aus dem Weg, während sich andere darauf konzentrieren. Welche ethischen Gesichtspunkte sind zu bedenken? Es handelt sich um eine riskante Passage zwischen Skylla und Charybdis – der Gefahr, der Patientin etwas einzureden oder nahezulegen, was vielleicht nicht zutrifft, auf der einen Seite, und der Gefahr, das eigentliche Übel unausgesprochen zu lassen und die Patientin im Stich zu lassen, auf der anderen Seite.

Werden beide Gefahren von allen gleich gewichtet, oder wollen viele die Toten ruhen lassen? Sie gleich zu gewichten würde bedeuten, verschüttete Erinnerungen sorgfältig und behutsam zu rekonstruieren – für TherapeutIn und KlientIn ein mühsames Unterfangen. Und was würde es dann bringen, wird manche Therapeutin nun still in ihrem Herzen weiterfragen. Die Schuldigen sind tot, das einstige Opfer kommt irgendwie durchs Leben, hinkt vielleicht ein wenig.

Bloß keine schlafenden Hunde zu wecken, führt uns also zu einer weiteren ungeklärten medizinischen Frage. Inwieweit sind Gewaltopfer nur verschreckt, inwieweit unheilbar deformiert? Welche Typen sind in der Praxis zu beobachten, mögen sie nun mit der Schwere und Art des Geschehens zusammenhängen oder auch nicht – oder können wir solche Typen im gemeinsamen Gespräch unter Fachleuten unter dem Dach des Verlags Angelika Gontadse vorbilden? Auch in der Fachöffentlichkeit ist nicht bekannt, wie schwerwiegend schwerwiegende Traumata wirklich sind – gerade auch, wenn sie sich verstecken.

 

Geistige Gesundheit und sexueller Kindesmissbrauch

Sexuelle Gewalt unterscheidet sich grundsätzlich von roher körperlicher Gewalt. Traumatische Symptome – oder körperliche Wunden – stimmen vielleicht sogar überein – und auf nichts anderes hebt die Symptomatologie ab –,doch liegt eine andere Deformation der Persönlichkeit zugrunde, und diese muss anders behandelt werden. Es gibt diesbezüglich keine allgemein anerkannten Ansichten oder eine eigenständige Behandlung, zumal viele, die sich mit dem Thema beschäftigen, selbst Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs sind.

Das ist nicht etwa eine Unverschämtheit. Ich höre es immer wieder von befreundeten Traumatherapeutinnen, aber auch psychologischen Beraterinnen. Nur deswegen hat sich dieser Praxisschwerpunkt herausgebildet; die Betroffene zieht die Betroffenen an, wird weiterempfohlen. Doch droht eine perfide Gegenübertragung. Die Therapeutin oder Beraterin bezieht sich eben nicht auf ihre eigene Erfahrung, will sich nicht immer wieder diesem Schmerz aussetzen, verschleiert die Verhältnisse vielleicht sogar, um nicht ihrerseits als Nestbeschmutzer zu gelten.

 

Typenbildung in der ideellen gemeinsamen Praxis

Ergeben sich aus der ideellen gemeinsamen Praxis gewisse Handlungsgrundsätze (über das Dreiphasenmodell hinaus) – eine Psychologie der Gezeichneten – oder doch kleine Erfolgsgeheimnisse, wie die einstigen Opfer Schritt für Schritt in ein ungestörtes Leben finden, den zerbrochenen Sinnhorizont wieder oder neu zusammensetzen?

Nur findet diese ideelle gemeinsame Praxis heute keinen Niederschlag in der Fachöffentlichkeit. Die Fachleute vernetzen sich nicht, bauen ihre Praxis ganz heimlich im Stillen auf und bilden sich nach ihren eigenen Vorlieben ohne Methodenkontrolle fort. Der Verlag Angelika Gontadse nimmt sich vor, den neuen ‹irregulären Heilerinnen› eine Öffentlichkeit zu schaffen, in der sie sich untereinander vernetzen, aber nicht der Psychologie oder Psychiatrie der herrschenden Wissenschaft der weißen Männer unterwerfen.

Die Erfahrungen aus Schwerpunktpraxen – von denen es nicht viele gibt – sind hier ebenso wertvoll wie sporadische Erfahrungen unter einer Klientel von nicht wesentlich Beschädigten (unter denen sich aber die Dunkelziffer tummelt). Nur gemeinsam können Radikale und Gemäßigte die Bewältigung in ihrer Gesamtheit schildern, möchten doch viele Patientinnen nicht wahrhaben, dass sexuelle Gewalt allgemein verbreitet ist, sondern an ihrer Vorstellung von einem guten Leben in einem hochentwickelten Land des deutschen Sprachraums festhalten.

Sie verzichten lieber auf die Wahrheit über sich selbst, als dass sie diese Illusion aufgeben. Wohlgemerkt, ist das auch ihr gutes Recht. Nur werden die Fachleute, die sich diesem Thema widmen, zur Gesellschaftsveränderung neigen, während diejenigen, die nur gelegentlich damit zu tun haben, die Bedeutung des sexuellen Kindesmissbrauchs herunterspielen. Ich habe darüber schon in vielen Gesprächen erbitterten Streit gehabt. Lassen wir uns nicht gegeneinander ausspielen!

 

Sexuelle Selbstbestimmung der Gezeichneten

Der tote Winkel in der Therapie sexueller Gewalt, ibs. sexuellen Kindesmissbrauchs ist die Rückgewinnung der sexuellen Selbstbestimmung durch die Opfer, aber auch die Frage, wie die gewalttätige Sexualität der Täter in gesunde Bahnen gelenkt werden kann.

Kann das Opfer – je nach Schwere des Schadens – sexuell gesunden? Es ist nicht mit der Wiedereingliederung in eine eheliche Sexualität (im Dienste des Mannes) getan, die heute oft im Vordergrund der ‹Heilungsbemühungen› steht. Doch mögen die Opfer anstreben, als Ehefrau und Mutter zu funktionieren, ohne etwas dabei zu empfinden. Das ist eine legitime Entscheidung aus gesellschaftlicher Verantwortung. Vergessen wir aber auch nicht, dass die Abwesenheit von Schmerz bereits ein Gewinn an Lebensqualität ist.

Tatsächlich werden die Opfer gerade regelmäßiger, langanhaltender sexueller Gewalt – ob in der Kindheit oder als Erwachsene – eine besondere, für Außenstehende fremdartig anmutende Sexualität entwickeln, in der Opfererfahrungen und Täterintrojekte eingegraben sind, bewusst oder unbewusst zu S/M-Praktiken neigen, ob sie ihren Neigungen nun nachgeben oder nicht.

Auch entscheiden sich die Gezeichneten oftmals für ein schwules oder lesbisches Leben, ob es nun ihre angeborene Neigung ist oder nicht. Wie stark will die Psychotherapie hier auf der vermeintlichen biologischen Anlage bestehen (und wie stark ist diese überhaupt einzuschätzen)? Psychotherapie oder psychologische Beratung müssen Überlebenden die Homosexualität als Option nahelegen, aber es wird dann in der Öffentlichkeit eine Woge der Empörung geben.

Doch damit nicht genug! Die gewalttätige, teils pädophile oder hebephile Sexualität der Täter ist bekannt genug, ihre Unbeherrschtheit, Gefühlskälte, Freude am Schmerz. Welche Sexualität empfehlen wir ihnen – und mit wem? Und berücksichtigen wir dabei auch, dass sich beide – Täter wie Opfer – heute in einvernehmlicher gewalttätiger Sexualität gefallen (B/D/S/M, rape games). Wem würden wir das empfehlen, und wären wir bereit zuzugeben, dass sich eine als Kind Vergewaltigte in den Armen eines gewalttätigen Kinderschänders wohlfühlt?

Sich mit der sexuellen Rehabilitation der in sexueller Gewalt Befangenen zu beschäftigen, kann immer nur bedeuten, eine vermeintlich abweichende Sexualität zuzulassen. Die Wiederherstellung eines ‹ordnungsgemäßen Geschlechtsverkehrs› wird dem Trauma niemals gerecht, tarnt es nur (was in meinem einzelnen Leben für mich sinnvoll sein mag).

Nicht dass Vergewaltigung und Kindesmissbrauch nun plötzlich erlaubt wären! Doch wir müssen offen über sexuelle Erregungsmuster, Wünsche und Praktiken sprechen, wenn wir den von sexueller Gewalt Gezeichneten ihre sexuelle Selbstbestimmung einräumen wollen, ihnen etwa die gleichgeschlechtliche Liebe oder ein bewusstes Machtgefälle in der Liebe ans Herz legen. Das ist immerhin einer von vielen Wegen zur Erfüllung, oder etwa nicht?

Wenn wir sexuelle oder überhaupt häusliche Gewalt bekämpfen, geht es nur um die entsprechenden Straftaten, aber nicht um Gelüste oder einvernehmliche Liebe (oder Gewalt). Kinder zu begehren ist nicht strafbar; nur, sie zu nehmen und zu zerstören. Einander mit Gewalt zu nehmen, ist nicht strafbar; nur Körperverletzung oder gegen den Willen wäre es.

Wer das eigene Überleben nicht öffentlich machen möchte – und ich empfehle es nicht –, kann die posttraumatische oder retraumatische Spannung auf so einer ‹inneren Bühne›, in einem beglückenden Geheimleben lindern. Man muss nicht das einst erlittene Trauma an die Glocke hängen oder gar die immer noch bestehenden Persönlichkeitsstörungen, würde aber durch eine Zwangssexualität immer wieder in die toxische Erinnerung – oder deren nicht minder toxische Abspaltung – getrieben.