Überlebende sexueller Gewalt: Opfer berichten ihr Kindheitstrauma
Entronnen bringt eigenhändige Überlebensberichte ibs. aus dem sexuellen Kindesmissbrauch ibs. in der Familie (Inzest), Sektenerfahrungen und Kinderprostitution, aber auch den Leidensweg geschlagener Frauen und Kinder, vergewaltigter Frauen und Sektenaussteiger, dies in vernünftigem Deutsch, ohne dass sich die Autorin – wie heute oft – mit ihrer Unbedarftheit lächerlich macht, als ungebildet oder weinerlich abgestempelt wird.
Die Themen sind seit 30 Jahren in der Öffentlichkeit. Die Betroffenenen – Überlebende – haben die Tatbestände, teils auch deren gesellschaftliches Ausmaß in Hunderten Lebensberichten auf Englisch, Deutsch und Französisch beleuchtet. Nur wird diese ‹flüchtige Literatur› selten gelesen und niemals ernst genommen, erscheint in Kellerverlagen oder von Sensationsgier getrieben ohne poetischen, pädagogischen oder politischen Anspruch.
Sexuellen Kindesmissbrauch ernstnehmen – Traumafolgestörungen ein Leben lang
Die Verfasserinnen solcher Berichte – deren Niederschrift eine Quahl für sie war – sagten bisher: Wenigstens ist mein Aufschrei als Buch erschienen – besser als gar nichts. Doch nun erwidert Entronnen: Bessere Bücher würden mehr nützen. Das vergebliche Aufbegehren, das keiner hören will, liegt Überlebensberichten nicht in der Natur. Echte Erfahrungen sagen mehr als statistische Auswertungen aus der Psychiatrie. Hier sprechen die, die nicht ganz kaputtzukriegen waren (und schildern die zahlreichen Versuche). Nur werden ihre Bücher bisher weder eindrucksvoll gestaltet noch professionell vermarktet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Nur in diesen Überlebensberichten erfahren wir die abscheulichen Ausmaße sexuellen Kindesmissbrauchs, lernen Kindesmissbrauch und die daraus resultierenden Persönlichkeitsstörungen aus erster Hand kennen. Ansonsten wissen es noch eine Handvoll Psychotherapeuten; Kinder- und Jugendhilfe, Forensik und Wiedereingliederungshilfe aber nicht. Vor allem Betroffene – in Deutschland mindestens jedes 4. Kind – wollen lernen, dass sie nicht allein sind und dass sie keine Monster sind. Sie leiden ihr Leben lang unter Traumafolgestörungen, doch es wird in der Öffentlichkeit kalt geleugnet. Deswegen werden Überlebensberichte in Entronnen ernstgenommen.
Wer betroffen ist oder den Verdacht hegt, sollte möglichst viele ähnliche Erfahrungen lesen, um die eigenen – oft genug nicht erinnerlichen – Verhaltensauffälligkeiten oder Eindrücke einordnen zu können. Die Psychiatrie verbietet es heute, will das Geschehen unter der Decke halten. Wir nicht. Entronnen ist für die Überlebenden sexueller Gewalt gemacht – nur für sie, nicht einmal ihre vermeintlichen Verbündeten. Lebenserinnerungen von ‹einfachen Leuten› – nicht Schriftstellerinnen – werden auf einem literarischen Niveau präsentiert und dann in der Öffentlichkeit hoffentlich endlich ernst genommen.
Überlebensberichte: Kindesmissbrauch, ritueller Missbrauch, Kinderprostitution
Entronnen glättet den ohne literarisches Lektorat unvermeidlichen tagebuchartigen Morast einer atemlosen, mit Rückerinnerungen und dumpfen Überlegungen gespickten Lebensbeschreibung und gliedert die Erzählung sinnvoll. Überlebende sexueller Gewalt sind die einzigen ernsthaften Lehrerinnen anderer Überlebender sexueller Gewalt, bringen daher nicht Tagebücher, sondern Selbsthilfeleitfäden heraus.
Unmittelbares Erleben, Therapieerfahrungen und späteres Leben werden in Entronnen unterschieden, Reflexionsblöcke über Geschlechterverhältnisse, Sozialmedizin und Rechtswesen als solche ausgewiesen. Nur den größten Romancières gelingt es, Erzählung, Deutung und Philosophie nahtlos ineinander übergehen zu lassen – unseren Autorinnen nicht. Im Marktvergleich würden bereits sprachliche Richtigkeit und angemessenes Druckbild einen bedeutenden Unterschied machen.
Genau da hilft der Verlag. Der Verlag Angelika Gontadse greift dieselben Geschichte wie andere auf, denn das ist nun einmal die Wirklichkeit. Doch bereiten wir sie zu einem eindrucksvollen Leseerlebnis auf – klar genug, um das Geschehen zu verstehen und nicht einfach missmutig mit den Schultern zu zucken. Die meisten Überlebensberichte laden heute nicht zum Verweilen ein, aber es wäre bei allen möglich gewesen.
Sammelbände ähnlicher Schicksale bündeln Anzeichen oder Symptome von Kindesmissbrauch
Wo es nicht für ein ganzes Buch reicht, werden ähnliche Schicksale in einem Sammelband zusammengefasst und mit einem Expertinnengespräch abgerundet. So werden unterschiedliche Missbrauchstypen erkennbar, und die Leserin – vielleicht selbst betroffen – kann ihre eigenen Erfahrungen besser einordnen. Entronnen bietet Orientierung für Missbrauchsopfer und ihre Verbündeten, nicht schaurige Unterhaltung, nur echte Fälle (bestenfalls Tatsachenromane), aber keine Pornothriller.
Geneigte Leserinnen: Missbrauchsopfer wollen Missbrauchssymptome erkennen
Entronnen richtet sich als Ratgeber an Missbrauchsopfer und ihre Verbündeten. Wer Überlebensberichte studiert, kann etwas über das eigene verschüttete Schicksal herausfinden, Erinnerungsauslöser gruppieren. Die ihrer eigenen Geschichte noch ungewisse Leserin wird bemerken: »Ich habe diese Symptome ebenfalls, aber jene nicht; gewisse Schilderungen verunsichern mich, schlagen eine dunkle Saite in mir an, andere sind mir fremd.« Wer bemerkt, dass es anderen genauso geht, wird ruhiger, hält sich nicht mehr für verrückt.
Eine erste Typologie, fast schon ein Editionsplan einer Enzyklopädie des sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland (oder im deutschsprachigen Raum) würde wie folgt aussehen:
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- Umfeld (a) besoffene Unterschichtvaterfigur = das übliche Vorurteil, (b) Bourgeoisie = ritueller Missbrauch und Kinderprostitution, (c) Mitteldeutschland = geringer Zivilisationsstand, (d) ländlicher Raum = bäuerliche Grobheit und fehlende Öffentlichkeit, (e) osteuropäische Einwanderung = mittelalterliche Gewohnheiten, (f) muslimische Einwanderung = mittelalterliches Recht
- Täter (a) Väter und Stiefväter = sein ‹gutes Recht›, bis er die Familie verlässt, (b) Großväter und Onkel = auch dies ist Inzest und wird in der Familie stillschweigend gebilligt, (c) Mutter als Mittäter = die Mutter weiß immer Bescheid, kauft sich vielleicht sogar frei, (d) gleichaltrige Verwandte = Brüder und Vettern und deren Freunde wollen auch was abhaben, (e) häufige Partnerwechsel = gewisse Männer suchen sich gewisse Familien, (f) Urlaubserlebnisse = fließender Übergang zwischen Urlaub in der Eltengruppe und Kinderprostitution
- Opfer (a) ungeliebte Kinder, (b) Jungs, (c) Modelwelt, (d) Täterforschung, (e) Knasterfahrungen
- Extremfälle (a) Sekte, (b) Kinderprostitution, (c) Mind Control
- Traumatologie (a) dissoziative Identitätsstörung, (b) Borderline-Syndrom, (c) Schizophrenie
- Austrocknen (a) Anzeige, (b) Heimerfahrungen, (c) Therapieerfahrungen Jugendlicher, (d) Aufklärer
- Weiterleben (a) Frauenleben, (b) Vergewaltigung in Paarbeziehungen, (c) Elternschaft, (d) Frauenhaus
- Ausblicke (a) Therapieerfahrungen Erwachsener, (b) Heilungsaussichten, (c) Betroffene als Therapeutinnen, (d) Traumavererbung über Generationen