Vom Überleben zur Eigenständigkeit

Ein freies Leben für Überlebende jenseits von Traumakonfrontation und Traumaintegration, wenn wir es uns aussuchen könnten? Wir wollen doch gar nicht ‹damit leben›, weil man eben nicht damit leben kann, müssen uns heute sogar den uns am nächsten Stehenden gegenüber verstellen. Das ist zumindest meine eigene Erfahrung. Und ich möchte es ändern. Die Täter und ihr Umfeld zu bekämpfen, gut und schön! Es ist unabdingbar! Doch brauchen sich erst einmal die Überlebenden nicht zu schämen.

Das ist kein Therapieprogramm und nicht Gegenstand der Wiedereingliederung. Es ist eine Lebensphilosophie ohne Fremdbestimmung – ob durch Engel oder Teufel. Ich für meinen Teil wäre lieber einfach nur ich selbst, und ich weiß inzwischen, wer ich bin. Das ist nicht trivial (würden Programmierer oder Projektingenieure sagen). Es ist anderen vollkommen fremd, nicht nur Unversehrten, auch meinesgleichen, wenn man offen damit umgeht und sich selbst bis zur bitteren Neige erforscht und neu aufzustellen versucht.

Sie kommen nicht damit zurecht, fühlen sich angegriffen. Das offene und freche Bekenntnis, zu mehreren zu sein, macht Menschen Angst, kreatürliche Angst – auch wenn sie selbst zu mehreren sind –, aber auch mit der vorsprachlichen Kommunikation der frühen Abspaltungen kommen sie nicht zurecht. Sie bleiben aber nicht vorsichtig davor stehen oder fragen, wie sie sich verhalten sollen, sie schlagen um sich, um das eigene Weltbild zu retten.

How does it feel to be on your own like a complete unknown like a rolling stone? (Bob Dylan)

Bin ich damit in das Stadium des ‹posttraumatischen Wachstums› eingetreten (nennen es diejenigen, die es nicht wahrhaben wollen)? Dann bin ich wohl über die anderen hinausgewachsen; sie können sich nicht hineinversetzen. Sogar meine Freundinnen unter den Psychotherapeutinnen ermahnen mich, ich könne, was ich nun einmal bin, anderen doch nicht wie einen Hundehappen hinwerfen und sie dann damit im Regen stehen lassen

Warum nicht? Soll ich mich etwa bei ihnen entschuldigen, wenn ich sie verwirre? Es interessiert mich nicht einmal. Ich muss es ihnen auch nicht erklären. Warum sollte ich Menschen sagen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie sich nicht zu fragen trauen? Warum sollte ich mir dumm kommen lassen? Ich kann es auch alleine. Das möchte ich allen Betroffenen zeigen, die sich nicht trauen. Es geht, liebe Schwestern!

Ihr müsst es nicht so machen, aber ihr könnt. Vielleicht nicht wie ich auf der großen Bühne, aber doch wenigstens im eigenen Lebensumfeld. Das macht es leichter, viel leichter. Ich bin nicht einmal mutiger als ihr. Ich habe nur meine Gründe. Es ist das, was ich tue, und es tut mir gut, so viele Schläge ich auch einstecke. Wer von uns hat Angst vor Schlägen? Wir können uns heute immerhin wehren.

Aber es ist doch so ein ungewöhnliches Schicksal, murmeln sogar die Verständnisvollen? Ist es wirklich? Ich höre nur Musik, sehe nur Filme und lese nur Romane von vergewaltigten Kindern für vergewaltigte Kinder, nicht erst seit gestern, mindestens seit dem 19. Jh. Die ernsthafte Rockmusik seit Beat bis Punk oder Heavy Metal hat kein anderes Thema; alles andere ist Schlager. Es gibt in der Populärkultur kein anderes Thema. Was ist daran schwer zu verstehen?

Tommy can you hear me, can you feel me near you? (Pete Townsend)

Überfordern wir Unbedarfte? Weil uns Überlebenden Themen vertraut sind, die die Allgemeinheit nicht einmal ahnt, vergessen wir, Mitmenschen Lösungsansätze für unser für sie ungewöhnliches Verhalten mitzugeben. Stimmt! Wer ihnen unverdauliche Häppchen hinschmeißt, kann nicht verblüfft reagieren, wenn sie den Zusammenhang nicht verstehen. Stimmt! Wenn sie um sich schlagen, dann aus Hilflosigkeit. Stimmt!

Na und? Wir verdanken dem Trauma besondere Fähigkeiten – kreativ, spirituell, medial. Auch deswegen wünschen wir uns Freiheit. Denn es gibt solche Fähigkeiten im Tatumfeld sonst nicht. (Tatumfeld – das seid ihr.) Doch sind die Begabten nicht der Maßstab für ein freies Leben. Sie können halt nicht anders. Entweder setzen wir uns selbst neu zusammen, oder wir lassen uns zerstreuen.

Die meisten von uns wollen ein ‹normales, unauffälliges Leben› führen, nicht mehr leiden, verformt und gezeichnet sein, es hinter sich lassen, ohne deswegen gleich alles zu vergessen. Wie ist Befreiung und Selbstbestimmung für Überlebende möglich, wie ist ein normales Leben für Überlebende möglich? Auch wer es ‹aufgearbeitet› hat, kann ja nicht normal leben, unverletzte Liebesbeziehungen oder Familienbande unterhalten, wird von Flashbacks eingeholt –­ Fluchtreflexe, Unmöglichkeit der Traumaintegration.

Sagen wir es ganz einfach und plakativ:Die Frauen unternehmen Selbstmordversuche, die Männer sterben durch Überarbeitung. Sie nehmen die Wahrheit mit ins Grab. Sie können eben nicht ‹normal› oder ‹unaufällig› leben – nicht die, die ich kenne, nicht die, deren gedruckte Berichte ich lese. Der Verlag Angelika Gontadse möchte diese Illusion zerstreuen. Wenn es für die Überlebenden von sexuellem Kindesmissbrauch ein normales Leben geben könnte, wäre es wunderbar. Dann hätte die Renormalisierungs-Nichttherapie Recht. Hat sie aber nicht.

Common ground – is that a word or just a sound? (Lou Reed)

Gibt es einen gemeinsamen Weg aller Trauma-Überlebenden, oder sind sie so vielgestaltig und idiosynkratisch wie die Traumata? Wenn wir so offen wie möglich mit anderen zusammenleben wollen – anderen unseresgleichen oder Spurdenkern –, müssen wir eine Psychoedukation im Alltag entwickeln, viel reden. Das müsste man in jeder Liebesbeziehung; meist scheitern sie daran, dass man sich eben nicht vorab genau unterhält.

Doch unter Gezeichneten, gar schwer gezeichneten Multiplen musst du wirklich alles bis ins kleinste Detail besprechen, unsere oft absonderlichen Reaktionen erklären. Wenn ich um Zuwendung und Liebe bitte, werde ich mich abwenden und erstarren. Ich muss erklären, wie das zu lesen ist – und dann auch noch gegenseitig in einem komplexen Feld.

So kann man vielleicht auch die kreatürliche Angst der Menschen vor der Multiplizität abschleifen. Sie werden sie nie ablegen. Zu mehreren zu sein, ist teuflisch und unberechenbar. Es ist sogar etwas dran, denn das multiple Gebäude ist nur ein Figurentheater, und die Wahrheit liegt tiefer. Zudem kennen zwar enge Freundinnen und Verwandten eine von meinen Persönlichkeiten und können mit ihr umgehen, doch sind alle anderen 10 ihnen fremd und neu.

We are one, but we are not the same (Jonny Cash)

Ich bin bei vollem Bewusstsein dissoziativ, lasse die Innenpersönlichkeiten zu, könnte nicht mehr unterdrücken, was sie hinter meinem Rücken tun. Ich weiß vermutlich nicht, was passiert, wenn ich mich verliebe; ich prüfe diese Liebe ja nicht alleine, stimme mich auch nicht darüber ab. Ich bin dabei, aber es ist mir nicht bewusst. Wie könnte jemals jemand damit zurechtkommen?

Ich sage: »Ich bin zu zehnt oder zu elft, das wissen wir nicht genau. Ein paar davon kann ich dir nennen, aber nicht zu viele, denn ich will dich nicht überfordern. Du wirst ja merken, wenn sie dazwischenfunken. Allerdings muss ich dazu sagen, Schatz, dass ich keine Kontrolle über mein Handeln habe. Ich teile sie mit anderen, die Dinge tun, für die sie nicht meiner Genehmigung bedürfen oder aber der Genehmigung von Leuten, die ich nicht kenne. Aber du kannst mir vertrauen; ich bin mir dessen allen bewusst – Halle, nicht Dungeon, nicht fraktal. Ich bin mit vollem Herzen bei der Sache. Wenn du jetzt etwas verunsichert bist, sage ich dir: Hör auf dein Herz, mein Schatz, fädle dich in die Linie ein. Dann wirst du spüren, dass du mir vertraut bist. Wir sind ein Volk, ein Stamm; wir wollen doch dasselbe.«

So ehrlich satirisch gesagt, reicht Psychoedukation nicht. Wer das alles nicht weiß, hat Angst vor Multiplen, hält sie für besessen, will schon gar nichts ggf. von der eigenen Multiplizität wissen.

Comes healing of the body, comes healing of the mind (Leonard Cohen)

Traumatherapie konzentriert sich darauf, Traumafolgestörungen zu lindern oder zu heilen. Nur ist gerade bei schwerwiegenden Identitätsstörungen ein ‹normales Leben› nicht möglich. Zwar streben auch diejenigen, die unter einer dissoziativen Identitätsstörung, einem multiplen Persönlichkeitssyndrom oder Borderline-Syndrom leiden, einen unauffälligen, gesellschaftsfähigen Lebenswandel an, müssen dafür aber eine Art von alltäglicher Psychoedukation auf der Mikroebene entwickeln, denn anders werden sie nicht glücklich; ihr Leben findet nicht von alleine ins Gleichgewicht.

Mir persönlich ist es wichtig, auszuleben, was an mir anders ist; ich möchte es nicht verbergen und schon gar nicht verbergen müssen. Damit meine ich nicht nur mein oft rätselhaftes Verhalten, sondern auch meine besondere Wahrnehmung meiner Umstände und mein Werteschema ‹nicht von hier›. Wie geht es anderen? Versteckt ihr euch noch? Gelingt es euch? Es ist keine Frage der Therapie, ein Bekenntnis zu uns selbst genügt. Bauen wir im Gespräch untereinander ein zu uns passendes Lebensmodell auf!

When I grow up I’ll be stable, when I grow up I’ll turn the tables (Shirley Manson)

Noch einmal (weil es mir so fremd ist): Die meisten von uns (sofern sie noch bei Sinnen sind) wollen ein ‹normales Leben› führen – unauffällig in der Masse verschwinden, nicht zuletzt aus Angst, dass es immer wieder passieren wird, wenn man auffällt. Nichts leichter zu verstehen als das! Nur funktioniert es nicht. Nur ein Beispiel: Von 5 Frauen aus einer ‹Wildwasser›-Selbsterfahrungsgruppe 1987/88 leben 2021 noch zwei; 2 haben Selbstmord begangen – als der Prozess des Vaters (des Täters) begann bzw. als die eigenen Ängste unererträglich wurden –, eine ist an Brustkrebs verstorben, alle nicht einmal 50.

Damit verschiebt sich die Frage. Es geht nicht darum, ob wir ‹dazugehören wollen› oder nicht. Das sehen nur Radikale so, die nicht ‹dazugehören wollen› – Hexen, Werwölfe, Engel, keine unauffälligen Bürger. Fragen wir uns konkret: Wie können Überlebende angesichts schwerer seelischer, oftmals auch körperlicher Behinderung ein ‹normales Leben› führen und nicht zerbrechen, wenn sie ihre Eigenart weiterhin verleugnen müssen, wie es ihnen bereits die Täter eingeredet haben? Nicht ‹ob›, ‹wie› – wie genau, Tag für Tag!

Es gibt ein paar praktische Erfahrungen meiner Freundinnen und Freunde aus der Psychotherapie und Traumatherapie. Überlebende benötigen lebenslang fraglos und klaglos Unterstützung, also ein Anrecht auf Hilfe aus dem Topf der Krankenkassen. Doch sie haben nicht für das Vaterland oder die Kapitalverwertung geblutet, sondern waren über Jahre hinweg in ‹sündige Machenschaften› verstrickt, vielleicht als Opfer, aber wer weiß das schon so genau? Die Opfer verkörpern Sünde und Schande, die Täter sind wertvolle Mitglieder der Gesellschaft. Ein lebenslanger Opferschutz würde darauf hinauslaufen, die Realität von systematischem langjährigem sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend anzuerkennen – in unserer Rechtsordnung unzulässig.

Doch Erinnerungsblitze, Lähmungen, Ausfälle hören niemals auf, auch wenn das Geschehen noch so gut ‹bewältigt› worden ist. Wir können Gerüchen, Berührungen, bedrohlichen Gesten nicht aus dem Weg gehen. Der Lebensgefährte weiß, dass ich Rosen oder Zungenküsse hasse, der Blumenstand oder das verliebte Paar nicht – ganz zu schweigen von bewusster Einschüchterung etwa am Arbeitsplatz. 

A change from another side of time placing back the missing mirrors lifting shadows from your mind (Cat Stevens)

Überlebende wissen nicht, was ein ‹normales Leben› ist, hängen Träumen nach. Zu wissen, dass ihr Verhalten für Überlebende normal ist, wäre eine Erleichterung, einfach so leben zu können, wie sie sind, ohne dadurch auffällig zu werden oder Schaden anzurichten. Wir müssen klarmachen: »Du bist normal, du bist in Ordnung. Du musst kein anderer werden. Es geht vielen anderen in deiner Situation genauso.«

Erst dann können wir fragen: »Wie willst du damit leben?« Offen damit umzugehen, wäre zu viel verlangt; geschändete Kinder sind keine Systemoppositionellen oder Lichtboten. Am liebsten verschweigen sie ihre Erfahrungen aus Angst oder Scham, sind sich ihrer vielleicht nicht einmal bewusst, glauben an ihre Alltagsüberforderung oder eine zahme Neurose. Doch die Dunkelziffer ist hoch, es gibt keine typische Fallkonstellationen, keine Strukturkategorie der gefährdeten Familie. Auslöser für häusliche Gewalt oder sexuellen Kindesmissbrauch können Eheprobleme sein, Machthabitus, Lebenskrise, eigene Kindheitserfahrungen.

Bei den KlientInnen liegt dann meist mehr im Argen als die Alltagsbewältigung, doch sie schotten sich ab, ‹machen dicht› und lassen sich nicht in die Karten schauen. Kommt die Alltagsberatung auf die allgemeine Lebensauffassung der Klientin zu sprechen (mindset), stöbert ihre Emotionen auf, geht das vielen zu weit. »Die Frauen haben sich sehr unter Kontrolle, wissen genau, bis wohin sie mich vordringen lassen,« sagt eine psychologische Beraterin.

Aber die strenge Kontrolle über das eigene Verhalten und die streng portionierte Öffnung eigener Defizite ist ein typisch posttraumatisches Verhalten, zudem ein weibliches Ideal. Die Gewährsfrau fährt fort: »Wir opfern uns auf. Es muss den anderen gut gehen. Ich komme zuletzt. So sind wir erzogen, und so funktionieren wir.« Sich um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern, ist ihnen fremd. Nur die, die ausbrechen wollen, mit ihrem derzeitigen Leben bewusst unzufrieden sind, sind bereit, auch ihre eigenen Gefühle in Angriff zu nehmen.

95 % der Klientinnen sind traumatisiert – wäre es auch ‹nur› emotionaller Missbrauch, liebloses, verächtliches Verhalten, als Mädchen erfahren –, wollen es aber nicht wahrhaben, und vielen Beraterinnen geht es ebenso. Viele psychologische Beraterinnen sind selbst betroffen und können nicht offen damit umgehen.

Fragen wir uns nun noch einmal nach ‹Trauma und Freiheit›! Jetzt gewinnt die Frage erst ihre Sprengkraft und wird zu einer Herausforderung für das Überleben über einen bestimmen Punkt hinaus.